
3-Fragen-an Potassco Solutions – »Wir treiben die KI-Wissenschaft seit Jahrzehnten mit voran«
Künstliche Intelligenz ist allgegenwärtig. Gängige Systeme wie ChatGTP basieren auf Sprachmodellen, die große Textmengen analysieren. Das Potsdamer Unternehmen Potassco Solutions, eine Ausgründung des Instituts für Informatik und Computational Science der Universität Potsdam, hat ein Programm entwickelt, das auf der Basis von fokussiertem Wissen komplexe Probleme löst. So können Unternehmen die Erfahrungen ihrer Mitarbeitenden nutzen, um optimale Lösungen für ihre Abläufe zu finden – etwa für Schicht- oder Fahrpläne. Die Potassco Solutions-Gründer Klemens Kittan und Professor Torsten Schaub über die einzigartige Funktionsweise ihrer Software und Open Source als Wachstumsstrategie.
Mit Ihrem Startup Potassco Solutions vermarkten Sie das KI-System Clingo als Problemlöser für komplexe Aufgaben in der Industrie. Was leistet Ihre Software, was Menschen nicht können?
Schaub Clingo ist ein generisches System, das so genannte kombinatorische Optimierungsprobleme lösen kann. Das sind klassische Probleme der modernen Welt, bei denen viele Entscheidungen unter Randbedingungen getroffen werden müssen. Ein Handwerksmeister um die Ecke kann seine zwei, drei Kolleg:innen noch aus Erfahrung leiten, bei großen Unternehmen mit tausenden Mitarbeitenden geht das nicht mehr. Da werden Entscheidungen und deren Abhängigkeiten schnell unüberschaubar: Wenn man nur fünf Entscheidungen treffen muss und jeweils zehn Optionen hat, dann sind das schon 10.000 Möglichkeiten. Das potenziert sich immer weiter und übersteigt bald die Auffassungsgabe der Menschen. Schichtpläne zum Beispiel sind dann illegal oder ineffizient, weil die Verantwortlichen die ganzen Randbedingungen gar nicht mehr überblicken.
Die Informatik geht solche kombinatorischen Probleme normalerweise so an, dass sie eine Anwendung programmiert, die den Lösungsweg für ein spezifisches Anwendungsproblem enthält. Unser System hingegen trennt die Fragestellung vom Lösungsweg. Die Problembeschreibung umfasst in der Regel nur zwei Seiten, die ein Maschinenbauer oder eine Betriebswirtin so formulieren kann, wie sein oder ihr Unternehmen es braucht. Clingo liefert dann die passende Lösung.
Kittan Wir haben zum Beispiel eine Kooperation mit einem bayerischen Anlagenbauer für Getränkeabfüllung. Da geht es um die Konfiguration von Abfüllanlagen mit Millionen von Variablen. Je nach Kunde – ob zum Beispiel Apfelsaft in Flaschen oder Limonade in Dosen abgefüllt werden soll – baut das Unternehmen sehr unterschiedliche Maschinen, die bis zur kleinsten Schraube maßgeschneidert sind. Clingo hat dem Kunden bereits geholfen, große Fortschritte bei der Ausweitung der Produktionskapazitäten zu machen. Da geht es darum, die Maschinen so zu konstruieren, dass der Zeitverlust zwischen Abfüllung von Apfel- auf Orangensaft minimal ist. Oder Fragen zu beantworten wie: Was füllt man zuerst ab, um die Reinigungsphase zu verkürzen? Welche Pumpen sollten eingebaut werden? Und welcher Durchsatz ist optimal?
Wir haben Clingo auch schon eingesetzt, um Fahrpläne und Schichtpläne der Schweizer Bundesbahn zu optimieren. Aktuell läuft eine Kooperation mit Krankenhäusern in Brandenburg, die ihre Schichtpläne optimieren wollen. Im Prinzip sind den Anwendungsbereichen von Clingo keine Grenzen gesetzt.
Clingo war von Anfang an ein Open Source-Produkt. Im Frühjahr 2023 haben Sie Potassco Solutions gegründet, das heute 22 Mitarbeitende hat – wie konnte auf der Basis von Open Source ein tragfähiges Geschäftsmodell entstehen?
Kittan Wir haben Clingo immer als Open Source-Software verstanden. Dabei hatten wir den Hintergedanken, dass über die Jahre eine Community entsteht, die uns wertvolles Feedback für die Weiterentwicklung liefert. Jemand, der das System in der Praxis anwendet, kommt später vielleicht zu uns, um ein spezifisches Problem besser zu lösen und ein paar Prozent mehr Effizienz rauszuholen. Wir unterstützen die Kunden dann bei der Auswahl der Variablen für eine gute Problembeschreibung. Unser Geschäftsmodell ist es, Unternehmen zu befähigen, die Software möglichst gut an ihre Abläufe anzupassen. Der Getränkeabfüller hat seine Produktionssysteme zum Beispiel komplett auf Clingo umgestellt und wird auch auf längere Sicht mit uns kooperieren.
Schaub Unsere Software wurde mittlerweile mehrere Millionen Mal heruntergeladen. Wir können gar nicht mehr kontrollieren, wer sie alles nutzt, weil sie in so vielen App-Stores frei verfügbar ist. Wir bekommen zum Teil nur zufällig mit, wer Clingo verwendet, weil Rückfragen kommen – etwa von Microsoft, Oracle, Siemens, der U.S. Navy oder von süddeutschen Autobauern. Open Source war für uns eine strategische Entscheidung, weil unsere Software aus der Forschung kam und diesen Reifeprozess in der Anwendung brauchte, um sich weiterzuentwickeln. Viel Feedback bekommen wir über unsere Community-Mailingliste oder GitHub, weil Leute dort Probleme aus der Anwendung beschreiben oder Verbesserungen vorschlagen, an die wir gar nicht gedacht haben. Dadurch wird das System immer robuster.
Wie wollen Sie die Zukunft der Künstlichen Intelligenz (KI) vom Potsdam Science Park aus mitgestalten?
Schaub Wir treiben die KI-Wissenschaft an der Universität Potsdam schon seit Jahrzehnten mit voran. Allerdings entwickeln wir bei Potassco Solutions kein Maschinelles Lernen und auch keine Large Language Models (LLM), die den KI-Hype derzeit bestimmen. Wir konzentrieren uns auf wissensbasierte KI. Unsere Technologie kann wertvolles Wissen einfangen, das in Unternehmen steckt. Wenn Mitarbeitende 20 Jahre Betriebserfahrung haben, können sie ihr Wissen in Clingo füttern und dadurch ein Assistenzsystem schaffen, dass sie darin unterstützt, interne Abläufe zu verbessern und sie für weiteres Wachstum fit zu machen.
Zugleich gibt Clingo eine Garantie ab, dass der vorgeschlagene Lösungsweg auch wirklich korrekt und optimal ist. KI auf der Basis von Maschinellem Lernen oder LLM kann so etwas nicht garantieren. Ein Auto muss nun mal auf der Basis von ingenieurwissenschaftlichen Prinzipien gebaut sein, nicht auf der Basis von Chat GTP. So, wie Taschenrechner und Spreadsheets als Assistenztools nicht mehr wegzudenken sind, wird unsere Technologie künftig die erste Wahl sein, um auf der Basis von Wissen flexible Lösungen für individuelle Probleme zu finden. Wir hoffen darauf, dass wir dadurch eine Wirkung in der Gesellschaft entfalten – und vor Ort im Potsdam Science Park Arbeitsplätze für die vielen hochqualifizierten Uni-Absolvent:innen schaffen können.
Dieser Blog und die von der Standortmanagement Golm GmbH im Potsdam Science Park durchgeführten Projekte werden von der Europäischen Union und dem Land Brandenburg gefördert.