Game Changer – „Wir hatten uns selbst überflüssig gemacht“

Mit „Sportlerherz trifft Expertenhirn“ überschreibt sich das Institut für Spielanalyse auf seiner Webseite. Dr. Karsten Görsdorf ist dort für die Konzeption & Vermarktung von Spielanalysen zuständig. Mit uns spricht er darüber, wie man mit Wissensvorsprüngen umgeht, was Wissenschaftler*innen an der Uni nicht beigebracht wird und wie man Fuß fasst in einem Markt, den es (noch) nicht gibt.

Wann waren Sie das letzte Mal selbst auf dem Fußballplatz?

(Überlegt kurz) Ich war letztes Wochenende joggen… Gekickt habe ich sonst nur mit meinen Kindern im Garten. Ich muss dazu sagen: die Begeisterung für die Spielsportarten lag bei mir schon immer eher außerhalb des Platzes.

Wie kamen Sie dazu, Sportspiele professionell zu analysieren?

Ich habe Sport und Germanistik studiert in Rostock und am zweiten Tag meines Studiums Christoph Dreckmann (heute Moeller) kennengelernt, meinen späteren Mitgründer. Wir saßen also im Seminar zum wissenschaftlichen Arbeiten bei Gunnar Hansen. Sein Thema war die qualitative Spielbeobachtung im Beachvolleyball. Mit dieser Methode versuchte er, die Kommunikation zwischen Spieler und Athlet zu optimieren, z. B. durch Stärken-Schwächen-Analysen der eigenen Spieler*innen und der Gegner*innen. Er war sehr erfolgreich damit und zeigte uns ein Foto, wie er während der Olympischen Spiele in Australien mit einem Computer auf dem Schoß am berühmten Bondi Beach saß und vor ihm ein Beachvolleyball-Spiel beobachtete. Da dachten wir uns: Der hat unseren Job! Ab da wollte ich Spielanalyst werden. Das war 2001.

Und wie wurde aus diesem Wunsch dann Realität?

Christoph hat in seiner Abschlussarbeit dann 2005 mit meiner Hilfe die Methode der Qualitativen Spielbeobachtung auf den Handball übertragen und wir haben sie im Anschluss mit zwei Nachwuchsteams ausprobiert, um zu schauen, wie das in der Praxis aussieht. Das hat sensationell gut geklappt. Da dachten wir uns: Das stellen wir den Top-5 Bundesligisten vor und haben behauptet: Spielbeobachtung ist das neue Ding! Die Rückmeldung war: Ihr seid fünf Jahre zu früh, das gibt’s hier alles noch nicht.

Und wie haben Sie Fuß gefasst in einem Markt, den es noch gar nicht gab?

Wir haben eine männliche Jugend-Nationalmannschaft des Deutschen Handballbundes über zweieinhalb Jahre betreut und uns gefragt: Wie kriegt man die taktischen Anweisungen des Trainers am besten in die Köpfe der Spieler? Das haben wir durch Evaluationsforschung im Feld im Rahmen unserer Dissertation bei Prof. Dr. Martin Lames an der Universität Augsburg ausprobiert. Die Jungs, die wir betreut haben, sind 2008 Europameister geworden. Über die Presse sind dann Fußballmannschaften wie der FC Augsburg auf uns aufmerksam geworden. Da haben wir gemerkt: Da ist ja ein Geschäft dahinter! Wir hatten also eine Methode, aber keine Struktur, keine langfristigen Projekte, keine Ahnung wie ein Unternehmen funktioniert. Steuern, häh? Wir wussten gar nichts.

Dann haben wir uns mithilfe des EXIST-Gründerstipendiums 2009 auf die Reise begeben und dort Leitplanken erhalten, für die ich noch heute sehr dankbar bin. Unterstützt wurden wir in dieser Phase von Prof. Dr. Ralf Brand von der Universität Potsdam, der auch den Kontakt nach Golm zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vom GO:INcubator herstellte.

Warum haben Sie sich dazu entschlossen, ein Unternehmen zu gründen und nicht z. B. als Spielanalyst zu Ihrer Lieblingsmannschaft zu gehen?

Es gab diesen Markt damals nicht! Als wir gesagt haben „wir sind Spielanalysten“, hat man uns geantwortet: Ihr seid Videoleute, ihr bewegt eine Kamera! Zu der Zeit kämpften gerade die Physiotherapeuten um eine feste Position und entwickelten ihr Berufsbild in der Mannschaft. Erst später – u. a. von Jürgen Klinsmann angestoßen – entwickelte sich die Einsicht, dass es Spezialisten mit neuen Rollen geben muss, dass also der Headcoach nicht alles können muss. Erst dann entwickelte sich die Rolle der Spielanalysten. Dabei war das Projekt der „Offiziellen Spieldaten“ der Deutschen Fußball Liga (DFL) entscheidend für den Markt. Heute wissen alle Fernsehzuschauer*innen, was genau ein Zweikampf, ein Pass, was ein Torschuss ist – damals war das noch gar nicht definiert. Wir haben damals 2010 erst mitgeholfen und den Weg geebnet, damit es Menschen wie uns geben kann in der Branche.

Welche Schlüsselerfahrungen gehen mit dieser Pionierarbeit einher?

Wir haben uns breit aufgestellt, haben Consulting betrieben und waren in fünf Spielsportarten tätig. Plötzlich hatten wir innerhalb von ein paar Monaten 40 Freelancer über viele Ligen, Klubs und Sportarten weltweit verteilt. Dann erst haben wir uns gefragt: Wie führt man eigentlich 40 Leute? Es war ein irrer Moment und wir konnten das nicht bewältigen. Da sind wir fast mit 180 gegen die Wand gefahren. Nach 18 Monaten waren wir dann wieder zu zweit.

Was haben Sie für sich daraus mitgenommen?

Es ist nicht so sinnvoll, im fünften Gang loszufahren. Also lieber langsam und bewusst hochschalten, die Umgebung wahrnehmen und mit der Geschwindigkeit klarkommen. Das hat uns insgesamt sehr demütig gemacht. Seitdem haben wir uns jedem Auftrag mit noch größerem Eifer und mit Dankbarkeit gewidmet. Es hat Jahre gedauert, bis wir aus diesem Tief wieder rausgekommen sind. Gelernt haben wir dadurch, dass wir nicht zu weit vor dem Markt sein dürfen. Dann versteht uns nämlich keiner mehr. Wissensvorsprung ist wirklich eine diffizile Sache – vielleicht wie bei einem Rennen: wenn man führt, ist es gut, wenn man nicht zu weit vorne ist, weil der Gegner im Nacken eine hilfreiche Motivation sein kann.

Was bedeutete das für Ihr Kerngeschäft?

Als wir uns wieder erholt hatten, war der Markt für uns erstmal zu. Denn ab 2015 waren sowohl die Klubs als auch die Liga bereits ausgestattet mit Spiel- und Datenanalysten. Wir hatten uns also selbst überflüssig gemacht. Daraufhin haben wir entschieden, stärker in die Sportmedienwelt zu gehen, weil zu der Zeit noch recht grob über Sportspiele, im Speziellen im Fußball berichtet wurde. Da hatten wir mit unserem Wissen und unserer Erfahrung einen Vorsprung, den wir als Spielanalysten fachlich gesehen nicht mehr hatten. Durch einen Kontakt zu Spiegel Online hatten wir dann die Chance bekommen, zusammen mit Martin Lames, der nunmehr an der TU München weilte, an einem gemeinsamen Projekt im Rahmen des Google DNI Funds mitzuarbeiten. Dort haben wir die technologischen Voraussetzungen für ein Produkt aufgesetzt, um mithilfe von semantisierten Daten anders über Spiele berichten zu können. Das war ein dankbares Sprungbrett für uns, um Data Driven Storytelling in der Spielberichterstattung zu entwickeln. So sind wir vom Berater und Dienstleister zum Product Owner geworden und konnten wieder mit einem eigenen Produkt an den Markt zurück.

Sie hatten nie Investoren, die an Ihrem Unternehmen beteiligt waren. Wie ist Ihre Haltung und Erfahrung, was Finanzierung angeht?

Ich bin da recht klar: Wenn du kein Investorengeld brauchst, dann nimm es auch nicht! Wir sind unabhängig, die Bude gehört uns. Außer dem EXIST-Fördergeld für die Gründung und dem Projekt, das mithilfe des Google DNI Funds umgesetzt wurde und das uns geholfen hat, unser Produkt für Spielberichte zu bauen, brauchten wir kein externes Geld. Klar, ein Biotechunternehmen ohne Investoren aufzubauen ist wahrscheinlich unmöglich, aber wenn man es nicht unbedingt braucht, sollte man es auch nicht nehmen.

Wie sehen typische Projekte bei Ihnen aus?

Wir bieten aktuell sportfachliche Analysen und Studien für Klubs an, machen Data-Driven-Storytelling für Sportwettanbieter und eröffnen Ligen sowie Verbänden Bildungsangebote sowie Audits für den Nachwuchsleistungssport.

Ein typisches Projekt: Ein Bundesligist kommt zu uns und sagt: „Wir verlieren zu viele Spiele in der letzten Viertelstunde, also in der Crunchtime. Wir können da aber kein Muster erkennen, könnt ihr uns helfen eins zu finden?“ Mit Daten von der DFL füttern wir dann unsere Daten-Architektur, erstellen eine Analyse und haben in dem oben geschilderten Fall z. B. rausgefunden, dass die Spieler bereits ab der 60. Minute abbauen, u.a. auch athletisch und technisch. Mit unserer Analyse setzen wir innerhalb der Klubs verschiedene Impulse, z. B. was die Neuverpflichtung von Spielern, ein verändertes athletisches Konzept und was die taktische Umsetzung angeht.

Welche Potenziale sehen Sie für die Zukunft des Sports, wo lässt sich überhaupt noch was verbessern?

Die Aufnahmefähigkeit von Menschen für Informationen ist begrenzt und auch athletisch kommen wir inzwischen an die Grenze dessen, was physisch überhaupt möglich ist. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass man nicht durch noch mehr Technologie im Profisport die großen Erfolge erreichen wird, sondern vor allem in der Ausbildung der Spieler und bei den Nachwuchsstrukturen noch was drehen kann.

Was haben Sie nach zehn Jahren Praxis gelernt?

Alle „Währungseinheiten“, mit denen man in der Wissenschaft Anerkennung erhält, haben nichts mit dem zu tun, was dann auf dem Markt gefordert ist. Es gibt minderwertige Produkte mit einem fantastischen Marketing und das wissenschaftlich fundierte, bessere Produkt steht als Ladenhüter da. Eine wichtige Frage bei wissenschaftlichen Ausgründungen, gerade was die eigene Persönlichkeitsstruktur angeht, ist: Kann ich verkaufen? Eine*r im Unternehmen muss es schaffen, die Dinge nach außen runter zu brechen, den Zampano machen. Das mache ich bei uns, das habe ich mir angeeignet über die Jahre, aber da ist noch eine Menge Luft nach oben.

Was mussten Sie dafür lernen, gerade mit dem Hintergrund als Wissenschaftler?

Es ist entscheidend, ein Fingerspitzengefühl für‘s Netzwerken und ein Gespür dafür zu haben, ob ich schon ein marktreifes Produkt habe oder erst noch nachbessern muss. Solche Gespräche gibt es in der Universitätslandschaft kaum. So zu denken wird uns Wissenschaftler*innen nicht beigebracht, zumindest ist das meine Einschätzung, ohne das jetzt verallgemeinern zu wollen.

Welche Fähigkeit ist entscheidend gerade bei wissenschaftlichen Ausgründungen?

Ich empfehle jedem, der über die Brücke von der Wissenschaft zur Wirtschaft geht, sich Fähigkeiten in Verhandlungsstrategien anzueignen. Verhandlungen dauern meist nur kurz, aber die Projekte, die daraus entstehen, dauern viel länger. Und gerade diese kurzen Momente, in denen die nächsten 12 bis 36 Monate ausgehandelt werden, müssen sitzen. Mein Appell: Macht es nicht wie wir durch Learning by Doing, sondern macht Kurse und lasst euch von Profis helfen!

Bildhinweis: Das Team der Institut für Spielanalyse GmbH © Institut für Spielanalyse GmbH, Foto: Florian Ullbrich

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