Game Changer – „Wie wollt ihr denn mit kostenlosen Angeboten konkurrieren?“

Signavio wurde 2009 von Dr. Gero Decker, Torben Schreiter, Nicolas Peters und Willi Tscheschner gegründet und bietet eine B2B-Software zur Prozessoptimierung an. Das Unternehmen hat über 400 Mitarbeiter in zwölf Büros weltweit. Als Mitgründer und CEO ist Dr. Gero Decker für die übergreifende strategische Ausrichtung von Signavio verantwortlich – und bietet uns am Anfang des Gesprächs das Du an. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, welche Trends für Signavio entscheidend waren, was er im Silicon Valley erlebt hat und warum deutsche Unternehmer*innen schlecht aufhören können.

Du bist nicht nur Experte für BPM (Business Process Modelling), sondern interessierst dich auch für Produktinnovationen. Was hat dich zuletzt begeistert?

Ich empfinde Autofahren, also selbst am Steuer sitzen, als eine enorme Zeitverschwendung. Deshalb faszinieren mich autonome Fahrzeuge. Das hinzukriegen ist eine hohe Kunst, gerade weil das technologisch so anspruchsvoll ist. Das wird die Dinge zum Besseren verändern, allein was die Sicherheit angeht, da bin ich mir ziemlich sicher.

Wie erklärst du dein Produkt jemandem, der gar nichts damit zu tun hat?

Wir verändern, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihr eigenes Unternehmen schauen und wie sie miteinander arbeiten. Beim Hausbau gibt es ein Architektur-Tool, mit dem ich Wände und Schächte aufbaue und wir machen das gleiche für betriebliche Abläufe. Denn es gibt immer Tausend Dinge, die in einem Unternehmen gemacht werden müssen: in der Bank muss geprüft werden, ob ich einen Kredit vergebe, bei einem Telekommunikationsunternehmen muss ein DSL-Anschluss bereitgestellt werden und bei einer Versicherung wird ein Schaden geprüft. Wir helfen dabei, diese Vorgänge in einem Unternehmen besser zu verstehen und das in der Zukunft besser und schneller zu machen.

Blicken wir zurück zum Anfang. Wann und warum keimte die Idee auf, ein Start-up zu gründen?

Ich habe am HPI (Hasso-Plattner-Institut) an der Uni Potsdam promoviert und da hatten wir aus Spaß an der Freude ein Projekt, das wir als Open Source Software umgesetzt haben. Wir haben es ins Internet gestellt, Leute haben angefangen es zu nutzen, die Presse hat darüber berichtet. Dann aber ging meine Zeit als Doktorand zu Ende und die beteiligten Studierenden schlossen ihr Studium ab. Und oft geht in genau solchen Situationen etwas zu Ende, die Technologie wandert also ins Archiv und lebt nicht mehr weiter. Zu dem Zeitpunkt waren wir zu viert – alles Softwareingenieure und Informatiker. Durch Kommerzialisierung wollten wir die Technologie weiterentwickeln und am Leben halten.

Welche Ziele habt ihr euch gesteckt neben dem, dass die Technologie überlebt?

Unsere Ambition war, 14 Mitarbeiter zu haben. Mit dieser Größe hat man typischerweise jede Position besetzt, die es in einem Software-Unternehmen gibt, sodass man nicht ständig alles selbst machen muss. Das war unsere große Vision! Wir wollten weder die Welt auf den Kopf stellen noch Milliardäre werden.

Wann wusstet ihr, dass ihr ein relevantes Produkt habt?

Den Bereich Geschäftsprozessoptimierung haben wir nicht erfunden, den gibt es schon seitdem es Autofabriken gibt und inzwischen auch in fast jedem Unternehmen. Wir waren aber die ersten, die konsequent auf eine webbasierte Technologie gesetzt haben. Cloud Computing zeichnete sich damals als großer technologischer Trend ab, also Software über Webbrowser bereitzustellen und diese nicht mehr auf Desktop-Computern und Servern zu installieren. Der zweite, gesellschaftliche Trend, der sich abzeichnete, war die Veränderung der Arbeitskultur: weg von einzelnen, hoch geschulten Experten hin zu Partizipation und Social Networks. Wikipedia statt Enzyklopädie, um nur ein bekanntes Beispiel zu nennen. Und damit kam eine Generation, die gestalten und mitmachen will, statt nur gesagt zu bekommen, was zu tun ist. So hatten wir also ein innovatives Produkt, das auf Kollaboration und Zusammenarbeit optimiert war.

Das klingt, als wäre der Erfolg von vornherein absehbar gewesen. Habt ihr viel Zuspruch von anderen bekommen für eure Idee?

Wir haben unsere Idee natürlich überall in unseren Freundeskreisen erzählt und scheinbar Wissende gefragt. Und alle sagten: „Das ist eine total bescheuerte Idee und niemand wird dafür Geld ausgeben! Große Unternehmen stellen diese Art von Software kostenlos bereit und wie wollt ihr mit denen konkurrieren?“ Aber was hatten wir schon zu verlieren in dem Alter? Ich selbst war mit 26 Jahren der Älteste unter den Gründern, der Jüngste war 23. Ich hatte meine Studentenbude, habe 230 Euro Miete (warm!) bezahlt. Und das in Charlottenburg! (lacht) Wann, wenn nicht dann probiert man es mal?

Wie war das, nach der wissenschaftlichen Umgebung in die Welt der Märkte und wirtschaftlichen Kennzahlen einzutreten?

Sehr erfrischend! Ich konnte es kaum erwarten aus der Wissenschaft rauszukommen. Das ging mir alles zu langsam. Es war zwar auch toll, jeden Tag gedanklich komplexe Rätsel zu lösen, aber es hat ja niemanden interessiert! So eine Promotion wird vielleicht 1,7 Mal gelesen im Durchschnitt, ein Conference Paper vielleicht 20 bis 40 Mal. So erzielt man keinen großen Impact in der Welt, auch wenn es spannende Themen sind! Die Themen sind auch meistens so kompliziert, dass sich nur so wenige Leute damit auseinandersetzen. Ich fand es erfrischend, nicht nur schwierige, sondern auch relevante Dinge zu machen!

Gab es ein Schlüsselerlebnis dafür?

Mir wurde es als Doktorand irgendwann langweilig, da habe ich etwas gebraucht, das schneller getaktet ist. Ich habe mir einen Anzug besorgt und für ein paar Monate bei McKinsey als Berater gearbeitet, einfach um einmal etwas komplett anderes zu machen. Das war für mich eine erhellende Erfahrung! Wenn man sich klug anstellt, die richtigen Menschen trifft und relevante Fragen stellt, kann man viel bewegen da draußen.

Wie war der Anfang? Wer waren eure ersten Kunden?

Es ging für uns gleich gut los von Anfang an. Unser erster Kunde war die AOK und es war aufregend, gemeinsam mit ihnen an ihren Herausforderungen zu arbeiten, denn sie steckten mitten in einer Fusion. Unser zweiter Kunde war ein großer Internetanbieter, der damals in einer tiefen Krise steckte. Durch uns hatten sie dann plötzlich ein Tool, eine Methodik, mit dem sie ihr ganzes Unternehmen auf links drehen konnten und ihren Aktienwert innerhalb weniger Jahre verfünffacht haben.

Klingt regelrecht einfach. Eine Software, die eine ganze Unternehmenskultur verändert. Wie geht das?

Wir kamen zur richtigen Zeit. Den Markt gab es ja und es gab Anbieter, die satt, groß und unbeweglich waren. Viele Kunden waren ihnen zu klein, für uns aber eine gute Chance, gerade als kleine Firma. Für das was wir gemacht haben, war die Zeit anscheinend reif, denn der Mittelstand ist damals gerade aufgewacht für das Thema Prozessmanagement. Wir konnten bei unseren Kunden einen Aufbruch mit initiieren, weil plötzlich nicht nur ein paar, sondern gleich mehrere Tausend Mitarbeiter*innen unsere Software verwendet und dadurch das Unternehmen mitgestaltet haben. Auf einmal unterhalten sie sich über genau die richtigen Dinge, auf einmal lernt z. B. die Mobilfunksparte von den Festnetzmitarbeitern – wie cool ist das denn!?

Du warst dann auch im Silicon Valley, um eure US-Dependance dort aufzubauen. Was hast du dort gelernt?

In dem Gebäudekomplex, in dem wir in Kalifornien gearbeitet haben, waren zur gleichen Zeit 250 Softwarefirmen auf einem Fleck. Nach drei Monaten war die Hälfte von ihnen weg. Drei Monate später war nochmal die Hälfte weg, weil sie keine Kunden, Mitarbeiter oder Investoren gefunden haben. Was man hier in Deutschland hingegen sieht, sind immer die erfolgreichen Unternehmen. Was man hier aber wiederum nicht sieht, sind tausende Unternehmen, die gestartet werden und dann wieder eingehen. Diese Volumina haben wir in Deutschland einfach nicht.

Welche anderen Unterschiede sind dir noch aufgefallen?

Die Leute hier geben nicht auf, und das meine ich nicht als Kompliment! Wenn alle anderen schon wissen „es funktioniert nicht“, betreiben sie ihr Unternehmen einfach immer weiter. Das Frustrierendste ist ja, und das kenne ich aus der Wissenschaft, wenn man ganz viel Mühe und Zeit reinsteckt und es hinterher niemanden interessiert! Das wollten wir bei Signavio um jeden Preis vermeiden.

Wie habt ihr das gemacht?

Wir haben uns in regelmäßigen Abständen Ziele gesetzt, die alle Gründer unterschrieben haben. Wenn wir sie zu 10-20% unterschreiten, ist das okay, aber wenn wir sie zu 50% unterschreiten, machen wir den Laden dicht und machen was anderes. Denn gerade diese wissenschaftsbasierten Ausgründungen werden durch Forschungsgelder lange am Leben gehalten und müssen drei Jahre lang keine Resultate vorweisen und häufig existieren sie dann nur deshalb noch. Das also können wir uns von den Amerikaner*innen abschauen: einfach auch Dinge sterben lassen, die nicht funktionieren, um dann mit etwas Neuem wieder neu durchzustarten.

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